15. Mai 2020

Wer auffährt, hat Schuld? Nicht immer…

Bei Verkehrsunfällen richtet sich die Haftung häufig nach dem Beweis des ersten Anscheins, doch dieser kann entkräftet werden

Bei Unfällen könnten die Unfallschilderungen der Beteiligten manchmal nicht unterschiedlicher sein – es steht Aussage gegen Aussage. Dies kann zu Problemen bei der Regulierung der Schadensersatzansprüche führen, weil sich das Verschulden des Unfallgegners nicht immer beweisen lässt. In einer Vielzahl der Fälle führt dies wegen der wechselseitigen Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge zu einer Regulierung zu 50%.

Der Anscheinsbeweis

Allerdings lässt sich die Haftungsfrage oftmals auch über den sog. Anscheinsbeweis bzw. Beweis des ersten Anscheins lösen. Es handelt sich dabei um einen von der Rechtsprechung entwickelten Ansatz, der davon ausgeht, dass bei typischen Geschehensabläufen bei denen aus einem bestimmten Ereignis auf eine bestimmte Folge und umgekehrt auch aus einem bestimmten Folgeereignis auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden kann. Stehen also ein typischer Geschehensablauf und der Eintritt eines Schadens fest, so führen die Grundsätze des Anscheinsbeweises dazu, dass hinsichtlich des Kausalverlaufs die Überzeugung gerechtfertigt ist, dass dem Ergebnis des Geschehens eine Sorgfaltspflichtverletzung vorausging.

Das klassische Beispiel ist: „Wer auffährt, hat Schuld!“

Und tatsächlich kann man oft davon ausgehen, dass der hinterherfahrende Fahrer entweder den Sicherheitsabstand missachtet hat oder abgelenkt war, anderenfalls hätte er rechtzeitig reagieren und ein Auffahren vermeiden können.

Doch der Anscheinsbeweis besteht nicht ausnahmslos, er kann auch entkräftet werden.

Dies ist z.B. der Fall, wenn der Vorausfahrende erst einige Augenblicke vor dem Auffahrunfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt ist und sich die Kollision beider Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel ereignet hat. Ereignet sich ein Auffahrunfall in einem unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, spricht der Anscheinsbeweis gegen den Fahrstreifenwechsler (so auch BGH, 13.12.2011, VI ZR 177/10; OLG Hamm, 27.10.2014).

Der Anscheinsbeweis kann ferner entkräftet sein, wenn es nur deswegen zum Auffahrunfall kam, weil der Vorausfahrende unvermittelt und ohne Grund eine „Vollbremsung“ vollzieht.

Ist der Anscheinsbeweis erschüttert, gelten dieselben Grundsätze wie im gesamten Zivilprozessrecht. Danach muss derjenige, der Schadensersatzansprüche aus dem Unfallgeschehen geltend macht, die Voraussetzungen hierfür beweisen.

Wie so häufig kommt es auch bei Verkehrsunfällen auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls an, eine pauschale Beurteilung kann es nicht geben. Aus diesem Grund sollte nach Verkehrsunfällen immer umgehend ein fachlich spezialisierter Rechtsanwalt hinzugezogen werden.