7. August 2020

Reißverschlussverfahren auf der Beschleunigungsspur?

Zur Frage des Vorrangs beim Auffahren auf die Autobahn

Eine Situation, die tagtäglich auf unseren Autobahnen vorkommt: beim Auffahren auf die Autobahn ist die Beschleunigungsspur „zu kurz“, so dass sich die spannende Frage stellt, ob das sog. Reißverschlussverfahren auch hierbei gilt und ob der fließende Verkehr das Auffahren ermöglichen muss.

Was besagt das Reißverschlussverfahren?

§ 7 Abs. 4 der Straßenverkehrsordnung (StVO) enthält folgende Legaldefinition dieses Verfahrens:

„Ist auf Straßen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder endet ein Fahrstreifen, ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können (Reißverschlussverfahren).“

Was sagen die Gerichte?

Zu dieser Frage gab es in den letzten Jahren diverse Gerichtsentscheidungen mit verschiedensten Sachverhalten, die jedoch vergleichsweise einheitlich zu dem Ergebnis gelangen, dass das Reißverschlussverfahren nicht für das Einfädeln bzw. die Beschleunigungsspur gilt; vielmehr haben Benutzer der Hauptfahrbahn Vorrang. Dies gilt sogar dann, wenn sich der Verkehr auf der Hauptfahrbahn staut (OLG Köln, 24.10.2005) oder nur zäh und stockend fließt (AG Braunschweig, 29.01.2008).

Was gilt beim Unfall?

Auf die Beachtung des Vorrangs darf der Benutzer der durchgehenden Fahrbahn grundsätzlich vertrauen. Der einfahrende Verkehr ist wartepflichtig und darf sich nur mit größter Sorgfalt auf die durchgehende Fahrspur eingliedern. Kommt es in dieser Situation zu einem Zusammenstoß zwischen einem (bevorrechtigten) Fahrzeug auf der durchgehenden Fahrspur und einem sich einfädelnden Verkehrsteilnehmer, spricht der sog. Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfädelnden. Dieser muss dann den gegen ihn sprechenden Anschein entkräften.

Haftet immer der Auffahrende allein?

Nein. Ein solches Entkräften des Anscheinsbeweises käme in Betracht beim vorrangwidrigen „Hineinquetschen“ oder beim sog. „Dichtmachen“, also dem eindringlichen Bestehen auf den Vorrang der Hauptfahrbahn. Denn kommt es hier wie dort zum Unfall, tendiert die Rechtsprechung dazu, dem Einfahrenden eine Haftungsquote von 70% anzulasten und dem vorrangberechtigten Benutzer der Hauptfahrbahn, der mit Fahrstreifenwechslern von der Einfädelungsspur rechnen muss, von 30% (beispielsweise AG Hamburg-Altona, 28.05.2013; AG Burgwedel, 02.10.2014).

Henning Doth
Rechtsanwalt (mit Tätigkeitsschwerpunkt Verkehrsrecht)