11. Dezember 2020

„Halbe Vorfahrt“ – was ist das denn?

Die Missachtung der Vorfahrt führt beim Unfall nicht immer zur vollständigen Haftung

Grundsätzlich darf der Vorfahrtberechtigte darf darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtsrecht beachtet wird. Er muss daher vor der Einfahrt in die Kreuzung nicht nach links schauen und nach etwa wartepflichtigem Verkehr Ausschau halten.

Dieses Vorfahrtsrecht findet allerdings seine Grenzen. So darf sich der Vorfahrtberechtigte bei der Überquerung einer grundsätzlich wartepflichtigen, aber frequentierten Durchgangsstraße nicht blindlings auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts verlassen. Gleiches gilt bei einer ausgesprochen unübersichtlichen Kreuzungssituation.

Halbe Vorfahrt?

An einer Kreuzung ohne besondere Vorfahrtsregelung ist ein Verkehrsteilnehmer gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern, die sich von links nähern, vorfahrtsberechtigt, während er gegenüber denjenigen, die sich von rechts nähern wartepflichtig ist. Um dem Verkehr, der von rechts kommt, Vorrang zu gewähren, muss er mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren. Dies dient auch dem Schutz des – aus seiner Sicht – von links kommenden Verkehrs.

In der Praxis hat durchaus seine Tücken, wie eine häufig anzutreffende Unfallkonstellation zeigt: ein wartepflichtiges Fahrzeug nimmt dem von rechts kommenden Fahrzeug die Vorfahrt. Es kommt zum Unfall. Die Haftung ist klar, sollte man meinen.

Handelt es sich um eine Kreuzung ohne besondere Vorfahrtsregelung („Halbe Vorfahrt“) kommt es auf die konkrete Situation vor Ort an: kam ein Auto von rechts, wie waren die Sichtverhältnisse, etc. Denn möglicherweise wäre von dem vorfahrtberechtigten Fahrer zu erwarten gewesen, dass er seine Geschwindigkeit reduziert (bis ca. 30 km/h) und / oder bremsbereit an die Kreuzung heranfährt, um etwaigen von rechts kommenden Fahrzeugen Vorfahrt zu gewähren.

Mitverschulden

Da dadurch möglicherweise der Unfall mit dem von links kommenden Fahrzeug vermieden worden wäre, mit ihm häufig ein Mitverschuldensanteil, regelmäßig 25%, auferlegt. Vom „Vorfahrtverletzer“ kommt dann oft der unjuristische Einwand, dass der Unfallgegner viel zu schnell in die Kreuzung eingefahren sei. Insofern ist im Zuge der Schadenregulierung Liebe zum Detail gefragt.

Eine Frage des Einzelfalls

Denn auch in Fällen halber Vorfahrt kann eine 100 prozentige Haftung resultieren, wie ein jüngerer Fall des OLG Hamm (Urteil vom 09.06.2020, Az. 7 U 19/19) zeigt. Nach der im Prozess durchgeführten Beweisaufnahme ging das Gericht davon aus, dass der vorfahrtberechtigte Kläger bei Annäherung an die Kreuzung eine ausreichende Sicht auf den von rechts kommenden Verkehr hatte. Von rechts kommende Fahrzeuge, denen er Vorfahrt hätte gewähren müssen, seien bereits aus einer Entfernung von 50 Metern unproblematisch zu erkennen gewesen. Anders sei die Situation für den von links kommenden, wartepflichtigen Beklagten gewesen. Für ihn sei die Sicht nach rechts durch Bäume und Büsche stark eingeschränkt gewesen, so dass er sich nur langsam in die Kreuzung hätte hineintasten dürfen. Tatsächlich war der Beklagte mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h mit dem Kläger kollidiert, wie ein Gutachter feststellte.

Dies war für das Gericht ausreichend, um ihm trotz der „halben Vorfahrt“ die alleine Haftung für den Unfall aufzuerlegen.

Henning Doth
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Versicherungsrecht